Bericht: Baden-Württemberg hat 20 bis 25 Bürgerentscheide pro Jahr. Direkte Demokratie behindert Hilfe für Flüchtlinge nicht. Fachverband fordert Entbürokratisierung für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide
Die direkte Demokratie wird in Deutschlands Städten und Gemeinden gelebt: An jedem Sonntag stimmt die Bevölkerung statistisch gesehen in zwei bis drei Kommunen über eine lokalpolitische Frage ab. Oft geht es dabei um Wirtschaftsprojekte wie Hotels, Einkaufszentren oder Windparks, um öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Sportstätten, Bäder und um Verkehrsprojekte wie Umgehungsstraßen, Radverkehrsinfrastruktur und Fußgängerzonen.
Das geht aus dem Bürgerbegehrensbericht 2025 hervor, den der Fachverband Mehr Demokratie am heutigen Mittwoch (21.5.) vorgestellt hat. „Die Menschen machen lebhaft Gebrauch von ihren Rechten, je besser die Regeln, umso häufiger“, sagt Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie.
Die Zahl der Bürgerentscheide in Baden-Württemberg lag in den letzten Jahren relativ konstant bei etwa 20 bis 25 pro Jahr. Die Zahl der Bürgerbegehren ist etwa doppelt so hoch. Ein großes Problem ist weiterhin, dass viele Bürgerbegehren aus rein formalen Gründen für unzulässig erklärt werden, was immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten und Frustrationserfahrungen für alle Beteiligten führt. Der Landesverband Baden-Württemberg von Mehr Demokratie e.V. fordert deshalb von der Landesregierung, die gesetzlichen Regelungen für Bürgerbegehren so zu entbürokratisieren, dass unnötiger Rechtsstreit zu formalen Zulässigkeitsfragen vermieden werden kann.
Insbesondere wird gefordert, nach dem Vorbild von einer in Nordrhein-Westfalen schon existierenden Regelung eine verbindliche Zulässigkeitsfeststellung durch die Gemeinde zu ermöglichen, bevor mit umfassenden Unterschriftensammlungen für Bürgerbegehren begonnen wird. Weiterhin fordert Mehr Demokratie e.V. nach dem Vorbild einer in Rheinland-Pfalz bereits existierenden Regelung, Informationen zu den Kostenfolgen verbindlich in die Informationsbroschüre zu einem Bürgerentscheid aufzunehmen, statt einen unverbindlichen aber formal komplizierten „Kostendeckungsvorschlag“ bereits für das Unterschriftenformular eines Bürgerbegehrens zu verlangen.
Denn letzteres ist in Baden-Württemberg der häufigste Grund für Rechtsstreitigkeiten um die formale Zulässigkeit von Bürgerbegehren. Der Landesvorsitzende von Mehr Demokratie e.V. in Baden-Württemberg, Edgar Wunder, erklärte: „Es wird höchste Zeit, dass die Landesregierung hier etwas unternimmt, wenn sie wirklich bürgerfreundlich sein will und auch die Kommunalverwaltungen von unnötigem Bürokratismus in Zusammenhang mit Bürgerbegehren entlasten will.“
229 direktdemokratische Verfahren wurden in deutschen Kommunen 2024 angestoßen. 179 Mal kam es zu einem Bürgerentscheid. Damit ist die Praxis seit der Corona-Pandemie leicht rückläufig. Die lebendigste Praxis verzeichnet nach wie vor Bayern mit 93 Verfahren, gefolgt von Baden-Württemberg (31) und NRW (30). Damit summieren sich die Bürgerbegehren in Deutschland auf insgesamt 7.839, die Bürgerentscheide auf 4.768. Hinzu kamen 1.614 Ratsreferenden, die von der Gemeindevertretung beschlossen wurden. Gut eintausend Mal setzte eine Initiative ihre Ziele auch ohne Bürgerentscheid durch: weil die Gemeindevertretung ihre Forderungen übernahm.
Ein eigenes Kapitel des Bürgerbegehrensberichts widmet sich Bürgerentscheiden zu Flüchtlingsunterkünften in den Jahren 2015 bis 2024. Eine überraschende Erkenntnis: Im Westen haben fast 70 Prozent aller Bürgerentscheide zu Flüchtlingsunterkünften in den Gemeinden ein flüchtlingsfreundliches Ergebnis. In den Jahren 2023/24 war es sogar in über 83 Prozent der Fälle so.
Insgesamt 27 einschlägige Bürgerentscheide gab es in den Jahren 2015 bis 2024. 16 davon endeten flüchtlingsfreundlich: Zwölfmal stimmte eine Mehrheit für einen geplanten, zweimal für einen besseren Standort. Zweimal scheiterte der Versuch, einen Standort zu verhindern, an zu geringer Beteiligung. Flüchtlingsunfreundlich, nämlich mit der rechtlich verbindlichen Ablehnung eines Standorts, endeten zehn Bürgerentscheide; darunter alle vier Bürgerentscheide in Ostdeutschland. Ein Bürgerentscheid behandelte die Frage, ob die Gemeinde mobile oder feste Unterkünfte einrichten sollte. Er wurde als neutral bewertet.
In den letzten zehn Jahre gab es in den 1101 Gemeinden Baden-Württembergs insgesamt nur neun Bürgerentscheide zu Unterkünften für geflüchtete Menschen. Davon sind mit nur einer Ausnahme alle für die Errichtung der Unterkünfte ausgegangen. Die rechtsextreme AfD hat keinen einzigen Bürgerentscheid initiiert. Im Ergebnis ist es definitiv nicht so, dass in Baden-Württemberg die Hilfe für geflüchtete Menschen durch Bürgerbegehren behindert würde. Der bekannteste Fall ist ein 2020 in Heidelberg durch Bürgerbegehren herbeigeführter Bürgerentscheid, mit dem erreicht wurde, dass das landesweite Ankunftszentrum für Geflüchtete nicht – wie von der Verwaltung ursprünglich geplant – weit außerhalb der Stadt unmittelbar am lärmbelasteten Autobahnkreuz errichtet wurde, sondern an einem menschenfreundlicheren Standort innerhalb eines Stadtteils.
Die meisten Versuche, mit Hilfe der direkten Demokratie eine Unterkunft zu stoppen, scheitern zudem bereits in frühen Phasen des Verfahrens. Sei es, weil nicht genügend Unterstützer-Unterschriften geleistet werden oder die Fragestellung unzulässig ist.
Seit 2007 erhebt Mehr Demokratie Daten zum direktdemokratischen Geschehen in den Gemeinden Deutschlands, zusammen mit seinen Partnern, dem Institut für Partizipations- und Demokratieforschung der Bergischen Universität Wuppertal (IDPF) und der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie an der Philipps-Universität Marburg, legt der Verein nun seinen achten Bürgerbegehrensbericht vor.
+++ Weitere Infos
Eine Pressemappe, die PDF des Berichts sowie eine Datenauswertung für alle Bundesländer finden Sie auf unserer Sonderseite: https://www.mehr-demokratie.de/mehr-wissen/buergerbegehren-in-den-kommunen/buergerbegehrensbericht
Text/Foto:
Mehr Demokratie e.V.
Greifswalder Str. 4
10405 Berlin