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Samstag, November 15, 2025
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Rauenberg kapituliert – Wie eine Weinwanderung am Sicherheitsstaat scheitert

Wenn Sicherheit zur Bürde wird – Das Aus der Rauenberger Weinwanderung und die Folgen einer überforderten Sicherheitskultur

Die 9. Rauenberger Weinwanderung, geplant für den 23. August 2025, wurde abgesagt. Nicht wegen mangelnder Nachfrage, nicht aus organisatorischen Gründen – sondern wegen der Sicherheit. Genauer gesagt: wegen der Unmöglichkeit, Sicherheit im Sinne aktueller Gefährdungslagen rechtlich tragfähig und verantwortbar zu organisieren. Das erklärt auch die Weinbruderschaft St. Michael e.V., die sich als langjähriger Veranstalter nun zurückzieht. Die Zukunft der Veranstaltung? Ungewiss.

Was wie eine lokale Anekdote wirkt, verweist auf ein größeres, strukturelles Problem: Die Verantwortung für innere Sicherheit im öffentlichen Raum wird zunehmend auf Vereine, Ehrenamtliche und Kommunen abgewälzt – ohne klare Leitlinien, ohne finanzielle Unterstützung, ohne rechtliche Absicherung.

Sicherheitskonzepte statt Lebensfreude?

Die Stadt Rauenberg hat den örtlichen Vereinen schriftlich mitgeteilt, dass sich die Bedrohungslage bei Veranstaltungen im Freien „massiv verändert“ habe. Das Schreiben empfiehlt, öffentliche Veranstaltungen möglichst zu vermeiden – Zufahrtsschutz, Fluchtwege, Terrorrisiken: Ein Sicherheitskonzept sei unumgänglich. Die Stadt könne nur beraten, nicht haften. Veranstalter müssten selbst Verantwortung übernehmen – auch im Schadensfall, auch mit dem Privatvermögen der Vorsitzenden.

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Die Reaktion der Weinbruderschaft ist nachvollziehbar. In ihrer Pressemitteilung heißt es: „Warum sollten wir dieses nun bewusst gewordene Risiko auf uns nehmen?“ Und weiter: „Wir sind nicht verantwortlich für die massive Änderung der Bedrohungslage und sind daher auch nicht bereit, den Kopf im ungünstigsten Fall mit unserem Privatvermögen hinzuhalten.“ Es liegt keine konkrete Gefährdung vor. Aber: „Dinge passieren bekanntlich immer zum ersten Mal.“ Das Risiko ist real, die Haftung ist es auch.

Das Ehrenamt unter Druck

Die Absage trifft nicht nur Weinfreunde. Sie trifft ein System, das in ganz Deutschland unter Druck gerät: das Ehrenamt. Engagierte Bürger organisieren Straßenfeste, Märkte, Umzüge – sie leisten, was die öffentliche Hand zunehmend nicht mehr stemmen kann oder will. Doch wenn dieselben Bürger plötzlich mit sicherheitsrechtlichen Anforderungen konfrontiert sind, die selbst Profis überfordern, kippt das Gleichgewicht.

In Rauenberg fehlt es nicht am Engagement. Es fehlt an klarer Verantwortung. Die Landesregierung Baden-Württemberg verweist auf die Kommunen, die wiederum auf die Vereine. Niemand will Veranstalter sein, aber jeder will Feste feiern. Und Rauenberg schmückt sich allzu gerne mit den Festen rund um das Thema Wein. Nach außen tritt man auf als sog. Weinstadt Rauenberg.

Andere Städte, andere Regeln?

Noch irritierender wirkt der Blick ins benachbarte Malsch. Dort findet am 3. August 2025 eine Weinwanderung statt – weil die Gemeinde selbst als Veranstalter auftritt. Warum ist das in Malsch möglich, in Rauenberg aber nicht?

Kritische Fragen drängen sich auf:

  • Warum tritt die Stadt Rauenberg – im Rahmen ihrer Kulturförderung – nicht selbst als Veranstalter auf?
  • Wurde geprüft, ob eine städtische GmbH oder ein Zweckverband die Veranstaltung rechtssicher hätte übernehmen können?
  • Welche Rolle spielt das Land Baden-Württemberg in der Schaffung verbindlicher, praktikabler Sicherheitsrichtlinien für kommunale Veranstaltungen?
  • Warum gibt es keine zentrale Landesstelle zur Bewertung von Sicherheitskonzepten, die Veranstaltern zumindest Rechtsklarheit verschafft?
  • Wie kann es sein, dass Ehrenamtliche ohne juristische Ausbildung die Haftung für komplexe Bedrohungslagen übernehmen sollen – ohne ausdrückliche Genehmigung durch die Stadt?
  • Ist das Modell Rauenberg ein Vorbote dafür, dass sich der Staat stillschweigend aus der Verantwortung für Kultur und Ehrenamt zurückzieht?

Keine Sicherheit ohne Recht und Ordnung

Es steht außer Frage: Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten drastisch verändert. Anschläge wie jene auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 oder 2025 in Mannheim oder München mahnen zur Vorsicht.

Fast jeden Tag hört man in den Medien von Messerangriffen, aber auch von Angriffen mit Macheten und sogar Äxten. (Siehe dazu auch das unabhängige journalistische Projekt messerinzidenz.de, das dokumentierte Vorfälle aus Medienberichten zusammenträgt) In Rauenbergs Nachbarstadt Wiesloch jährt sich im September der Messermord an der jungen Lisa S. nun zum zweiten Mal. Vor kurzem feierte man in Wiesloch das Stadtfest, für das Sicherheitskonzept wurden über 100.000 Euro ausgegeben. Doch dieses sog. Sicherheitskonzept war löchrig wie ein Schweizer Käse. (Unser Bericht dazu folgt noch!)

Das Bundeskriminalamt (BKA) erfasst Messerangriffe deutschlandweit erst seit Anfang 2020 als bundesweit harmonisierte Daten. Die Statistik ist damit für 2015 bis 2019 nicht vorhanden, weil Messer als Tatmittel zuvor nicht systematisch erfasst wurden. Die Zahlen vor 2020 fehlen also und das Dunkelfeld bleibt groß. Es lässt sich feststellen, dass sich die erfassten Messerangriffe von rund 10 000 jährlich (2021) auf nahezu 29 000 im Jahr 2024 mehr als verdreifacht haben. Für tödliche Messerattacken gibt es keine jährliche Gesamtstatistik, das BKA liefert nur Messerangriffe gesamt.

Neben der stark gestiegenen Zahl an Angriffen mit Stichwaffen beobachten Sicherheitsbehörden ein weiteres bedrohliches Phänomen: sogenannte Amokfahrten, bei denen Täter gezielt mit Fahrzeugen in Menschenmengen rasen. In Wiesloch setzt man inzwischen auf Bauschuttcontainer, Feuerwehrfahrzeuge und sogar Bagger als temporäre Sperren – sie sollen genau solche Anschläge verhindern und bei Stadtfesten für mehr Schutz sorgen.

Aber Sicherheit darf nicht zur unüberwindbaren Hürde für das gesellschaftliche Leben werden. Sonst wird aus berechtigter Vorsorge ein schleichender Rückzug – nicht der Gefährder, sondern der Gesellschaft. Was bleibt, ist eine Lücke: im Kalender, im Ortsleben, im Vertrauen zur Politik.

Die Weinwanderung in Rauenberg ist ein Symbol für diesen Zustand. Vielleicht findet sich ein Weg zurück – mit neuen Strukturen, neuer Verantwortungsteilung, klaren Regeln. Sonst droht die Sicherheitsfrage mehr Veranstaltungen zu beenden als jeder tatsächliche Anschlag. Vielleicht wird es jedoch noch schlimmer.

„Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta!“, sagte einst Peter Scholl-Latour (deutsch-französischer Journalist, Sachbuchautor und Publizist). Mit dieser Aussage sollte er recht behalten. Hunderttausende Menschen sind seit 2015 ins Land gekommen, nicht nur friedliche Menschen, die sich an Recht und Ordnung halten, sondern auch Schwerverbrecher, Kriminelle und Mörder.

Der Satz „Wir schaffen das“ wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August 2015 in einer Pressekonferenz im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise geprägt. Er wurde zu einem der bekanntesten politischen Zitate des Jahrzehnts und ist eng mit ihrer Amtszeit verbunden. „Wir schaffen das“ war ein moralischer Imperativ, keine realpolitische Garantie. Ohne klare Regeln, Grenzen und Prioritäten wird aus gutem Willen schnell Überforderung – für Staat, Gesellschaft und die Betroffenen selbst.

Aus rechtlicher Sicht

Die Absage der Rauenberger Weinwanderung zeigt exemplarisch, wie das Ehrenamt durch rechtliche Unklarheit und politische Zurückhaltung überfordert wird. Nach aktueller Rechtslage gibt es in Baden-Württemberg keine landesweite Rechtsverordnung, die einheitlich regelt, wann und wie ein Sicherheitskonzept zu erstellen ist.
Die Landesregierung verweist auf die Versammlungsstättenverordnung (VStättVO BW), die formelle Sicherheitskonzepte erst ab 5 000 Besuchern zwingend vorsieht. Für kleinere Veranstaltungen liegt die Entscheidung über Auflagen im Ermessen der Kommunen – auf Grundlage von Polizei-, Ordnungs-, Bau- und Straßenrecht.

Damit trägt der jeweilige Veranstalter die volle Verantwortung – rechtlich wie finanziell. Eine klare Genehmigung oder Abnahme durch die Kommune findet nicht statt. Stattdessen wird lediglich „beratend“ begleitet. Im Ernstfall stehen die Vereinsvorsitzenden mit ihrem Privatvermögen in der Pflicht, ohne belastbare Absicherung.

Die Folge: Ehrenamtliche Vereine sollen Risiken tragen, die der Staat selbst nicht mehr verantworten will. Solange es keine verbindlichen Regeln, keine echte Mitverantwortung der Kommunen und keine Rückendeckung durch das Land gibt, ist die Absage vieler ehrenamtlicher Veranstaltungen keine Frage von „ob“, sondern von „wann“.

Fragen an die Bürger und Bürgerinnen

  • Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der Ehrenamtliche für abstrakte Risiken haften, während der Staat sich aus der Verantwortung zurückzieht?
  • Wer soll in Zukunft kulturelle Veranstaltungen organisieren, wenn niemand mehr bereit ist, das rechtliche Risiko zu tragen?
  • Ist eine Weinwanderung auf öffentlichen Wegen heute wirklich gefährlicher als früher – oder ist es die Angst vor juristischen Konsequenzen, die uns lähmt?

Schreiben der Stadtverwaltung Rauenberg an die Vereine:

Schreiben der Stadtverwaltung Rauenberg

Anm. d. Red.: Für eingereichte oder namentlich gekennzeichnete Beiträge sind die Autoren verantwortlich. Form, Stil und Inhalt liegen allein in der Verantwortung des Autors. Die hier veröffentlichte Sichtweise kann daher von der Sichtweise der Redaktion oder des Herausgebers abweichen.

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